Sonntag, 6. September 2009
A Book Judged By Its Cover
Ich sitze im Zug von Soest nach Hamm und ärgere mich, dass ich mir nichts zu lesen mitgenommen habe, als ich von meinem Gegenüber hektisch aus meinen Gedanken gerissen werde. Seine Nase blutet sehr stark und er fragt nach einem Taschentuch. Ich krame in meiner Tasche und finde zwischen Ipod, Handy, Haustürschlüssel und dem neuen Ikea-Katalog schließlich meine letzten, bereits angebrochenen Taschentücher.
„Die kannste behalten…“
Er nimmt die Packung, dann seinen Koffer, bedankt sich leise und verschwindet.
Ich sehe, dass auf seinem Platz noch ein Buch liegt, nehme es und gehe im nach. Als ich ihm hinterherrufe, er habe seine Lektüre vergessen, beschleunigt er seinen Schritt. Er dreht sich um und sieht mich mit dem Buch in der Hand. Jetzt fängt er an zu rennen. Der Zug kommt zum stehen, die Türen öffnen sich und er springt nach draußen.
„Viel Glück mein Freund!“, schreit er noch zu mir herein, bis er schließlich die Treppen des Bahnhofs hinunterläuft und verschwindet.
Komischer Typ.
Ohne großartig zu überlegen, stecke ich das Buch in meine Tasche und steige in Hamm aus, um auf den nächsten Zug nach Köln zu warten.
Ich muss erst wieder daran denken, als ich im RE7 sitze. Die hübsche Blondine mit dem Nasenring, die mir gegenüber sitzt, scheint sich nicht für mich zu interessieren, also starre ich gelangweilt aus dem Fenster, bis mir schließlich das Buch wieder einfällt. Ich hole es aus meiner Tasche und höre, wie die Blondine anfängt zu kichern. Ich versuche zu lächeln.
Ja, belesene Typen schinden schnell Eindruck bei jungen Frauen.
Das ist zumindest der erste Gedanke, den ich habe. Erst als ich meine Augen von ihr abwende, um mich wieder dem Buch zu widmen, sehe ich den wahren Grund für ihr Kichern. Die Rückseite des Buchs zeigt auf halber Seite ein Foto der schwedischen Autorin Kerstin Thorvall. Mit Hornbrille und Pottschnitt grinst sie dem vermeintlichen Leser entgegen. Darunter steht eine kurze Zusammenfassung und der Verlag: „Neue Frau“.
Klasse. Soviel zum Thema Eindruck schinden…
Weil ich aber weiter den kultivierten jungen Typen geben möchte, versuche ich mir nichts anmerken zu lassen (was ziemlich schwierig ist, da mir die Sache sehr peinlich ist und ich merke, dass ich ziemlich rot werde), schlage das Buch irgendwo in der Mitte auf und tu so, als würde ich weiterlesen:
„Der Strand auf der kleinen Insel war ein Nacktbadestrand. Sie hatte sich abgewandt. Ich sah, wie Gittan und sie sich auszogen. Plötzlich viel mir ein, dass es lange her war, dass ich sie ohne Kleider gesehen hatte. Ich wollte nicht, dass sie sich je umdrehte. Und doch wollte ich es. Voller Entsetzen und Lust erhob sich mein in den Körper integriertes, aber doch selbstständiges Organ, als…“
Ich bin auf eine seltsame Weise sofort von diesem Buch gepackt, als plötzlich Blut auf die Seite tropft und mich von der Lektüre ablenkt. Meine Nase blutet. Ich suche verzweifelt nach Taschentüchern, bis mir wieder einfällt, wo meine letzte Packung abgeblieben ist.
Das Mädchen von gegenüber hat meine missliche Lage bereits erkannt und bietet mir ihre letzten Taschentücher an. Ich nehme die Packung, dann meine Tasche, bedanke mich leise und siehe zu, dass ich aus diesem Zug komme. Ich höre sie noch hinter mir herrufen, dass ich mein Buch vergessen hätte, als ich aus der Bahn in die Freiheit springe.
P.S.: Sollte jemals jemand den Roman „Die Verschwundene“ von Kerstin Thorvall in der Bahn liegen sehen, lasst die Finger davon. Oder versichert euch wenigstens vorher, dass ihr eine Packung Taschentücher dabei habt. Ich bin ja nicht abergläubisch oder so, aber dieses Buch ist verflucht!
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Du sollst arbeiten und nicht bloggen... gefällt mir aber trotzdem!!!
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