Freitag, 25. September 2009

Are You Retarded?



Nach der letzten Bandprobe bevor es wieder ins Studio geht, stehe ich am Hans-Böckler-Platz und warte auf die Linie 3. Normalerweise reicht die 4 ja, um bis zur Wolffsohnstraße und so zu mir nach Hause zu kommen. Aber nach 20 Uhr – so denkt sich die Stadt Köln – braucht ja niemand mehr mit der 4 bis zur Wolffsohnstraße zu fahren. Danke Stadt Köln.

Und wie es dann eigentlich immer so ist, komme ich am Hans-Böckler-Platz an und es kommt zuerst die 4. Die böse 4 nach 20 Uhr. Nach einer knappen Viertel Stunde kommt dann die 3 – die gute 3, die mich bis vor die Haustür bringt – und ich steige ein.

Die Bahn ist leer, bis auf ein knutschendes Pärchen und einen schlafenden jungen Türken. Ich setze mich, stell meine Gitarre und meine Tasche vor mir ab, krame meinen Kopfhörer raus und lausche den Decemberists auf Hazards of Love, während ich aus dem Fenster in die Dunkelheit schaue.

Nach einer Weile lasse ich meinen Blick durch die Bahn schweifen. Das Pärchen ist inzwischen ausgestiegen, was mir die restliche Bahnfahrt definitiv verschönert. Stattdessen steht jetzt eine alte Frau vor mir, die – oh, sie redet mit mir. Kopfhörer runter.

„Wie bitte?“
„Sie wissen, dass das hier ein Behindertenplatz ist, oder?“

Na wenn mir so eine heute mal nicht noch gefehlt hat.

„Oh, ja ich sitze hier nur wegen den vielen Taschen und… aber kein Problem, Sie können gerne hier sitzen.“
„Ja bitte, ich kann Ihnen auch gerne meinen Behindertenausweis zeigen.“
„Äh nein, nicht nötig. Ich glaub Ihnen das wohl.“ Dass sie behindert sind.

Ich bin gerade dabei aufzustehen – denn ich bin ja ein herzensguter Mensch – da höre ich sie ein dezentes „die Jugend von heute…“ vor sich her nuscheln. Weil ich zu müde bin, um mich jetzt noch mit einer Oma anzulegen, tue ich so, als hätte ich sie nicht verstanden, nehme ich meine Gitarre und die Tasche und stelle mich an den Fahrradplatz. Es sind ja schließlich nur noch zwei Stationen.

Ich habe den Vorfall schon fast vergessen und will mich wieder den Decemberists widmen, als ich sehe, dass sie in ihrer Handtasche kramt, um mir anschließend ihren Behindertenausweis vor die Nase zu halten.

Ich bin ja ein herzensguter Mensch. Wie gesagt. Aber jetzt ist mir irgendwie nicht mehr danach, freundlich zu sein.

„Das ist jetzt nicht ihr Ernst, oder? Sie sind doch nicht sprachbehindert, oder? Wenn Sie auf dem Platz sitzen wollen – obwohl ja die ganze Bahn frei ist und sie, so wie ich das sehe, keine Rollstuhlfahrerin sind und nicht auf Krücken angewiesen sind – dann sagen Sie das doch einfach.“

Jetzt sagt sie nichts mehr. Als ich aussteige hört sie mich noch ein dezentes „Alte Schachtel“ vor mich hernuscheln. Sie tut so, als hätte sie mich nicht verstanden.

Auf dem Heimweg geht der junge Türke aus der Bahn neben mir.

„Ey, was hatte die denn für ein Problem?!“

Ich erklärs ihm.

„Ach mach dir nichts draus. Ich kenn die. Die ist immer so behindert.“

Dienstag, 15. September 2009

I Don't Need A Doctor...



„Herr Schmitz bitte? Herr Schmitz!?”

“Ich muss auflegen, ich bin jetzt dran… was?... ja, wie auch immer… machs gut.“

Die Praxishelferin schaut mich ein wenig misstrauisch an bevor sie mir den Raum zeigt, in dem ich warten soll. An der Wand hängt eine große Leinwand mit einem schönen alten grünen Caddilac. Bevor ich den Rest des Beratungszimmers in Ruhe betrachten kann, kommt der Arzt ins Besprechungszimmer.

„Herr Schmitz, nehme ich an?“
„Ja richtig, Doktor Meisner?“

Er sieht mich einen Moment schweigend an. Schließlich fragt er:
„Woher wissen Sie das?“

Ich bin verwirrt.

„Äh, von Ihrem Türschild? Und von meinem Hausarzt, der mich an Sie verwiesen hat?!“

Er schweigt noch eine Weile. „Ja richtig. Ich bin Doktor Meisner.“

Schweigen. So langsam frage ich mich, ob ich hier wirklich richtig bin.

„Was fehlt Ihnen denn, Herr Schmitz?“

„Naja, eigentlich nichts, ich muss nur meine Haut mal untersuchen lassen. Muttermale und so… Sie wissen schon. Das übliche halt.“

„Verstehe, dann machen Sie sich doch bitte frei…“

Ich habe gerade meinen Pullover ausgezogen, da fängt Doktor Meisner an wie ein kleines Mädchen zu kichern. Er weist mich auf die Schweißränder an meinem Shirt hin und fragt, ob ich nervös sei.

Ich überlege, ob ich mal wieder meine unglaublich überzeugenden Schauspielkünste auspacken soll (1. Ich bin mit dem Rad hierher gefahren, 2. Banküberfall, 3. Ihre Klimaanlage im Warteraum funktioniert nicht, sie Arsch…), als mir einfällt, dass Doktor Meisner ein sehr gebildeter Mann sein muss. Schließlich hat er Medizin studiert. Ich entscheide mich für die Wahrheit:

„Ich hab gerade mit meiner Ex telefoniert.“
„Oh, verstehe. Wie lange ist Schluss?“
„2 Wochen.“
„Wer hat’s beendet?“
„Beide.“

Er betrachtet mich kurz. „Ihren Schweißrändern entnehme ich, dass da noch immer Gefühle im Raum sind.“ Pause. „Und Ihrem Schweigen entnehme ich, dass ich recht habe.“

Wow. Der ist echt gut. Ich frage mich wieder, ob ich hier richtig bin, oder ob Doktor Meisner nicht in Wirklichkeit Psychologe ist. Er fragt mich, ob ich glaube, dass noch einmal was draus wird.

„Naja, sie hat ziemlich tiefe Wunden bei mir hinterlassen...“

„Nicht so tief, wie die Wunden, die ich hinterlasse, wenn ich mit den Leberflecken auf Ihrem Rücken fertig bin, hahaha!“

Der Mediziner fängt lauthals an zu lachen, dann muss er husten und sich räuspern, um wieder ernst zu werden. Er gibt mir zu verstehen, dass ich mich weiter ausziehen soll. Als ich schließlich nackt vor ihm stehe, verschwindet das Lächeln auf seinem Gesicht wieder.

„Aber mal im Ernst, Wunden sind zum Heilen da. Und ich weiß wovon ich rede. Ich bin schließlich Arzt.“

Während er so erzählt, dreht er mich ein paar mal im Kreis und nimmt mich dabei unter die Lupe. Weil mir die Sache irgendwie unangenehm ist, lasse ich ihn weiter erzählen.

„Frauen sind so eine Sache für sich. Immer wenn man denkt, dass man sie verstanden hat, beweisen Sie Ihnen das Gegenteil.“

Als er schließlich fertig ist, ziehe ich mich wieder an und frage Ihn, was zu tun sei.

„Naja, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin ja schließlich kein Psychologe, sondern Dermatologe.“ Er lacht.

Und zum ersten mal bin ich mir sicher, dass ich hier doch richtig bin.

„Aber wenn sie mich fragen, sollten sie versuchen, was zu versuchen ist. Wissen sie, die Frage ist nicht, ob wir an die wahre Liebe glauben, sondern ob sie an uns glaubt...“

Bevor er weiter ins Philosophische abdriftet, unterbreche ich ihn. „Doktor Meisner. Ich meinte nicht, was wegen ihr zu tun sei, sondern wegen mir. Die Muttermale? Operieren?“

„Äh, ach ja. Fünf davon sehen nicht gut aus. Die müssen ganz schnell weg. Lassen Sie sich vorne einen Termin geben.“

Ich ziehe meine Socken und Schuhe wieder an und bedanke mich bei ihm für seine Beratung für Kopf und Körper. Ich überlege kurz, ob ich ihm sagen sollte, dass er auch einen guten Psychologen abgegeben hätte. Aber ich weiß ja nicht, ob das nicht vielleicht immer schon sein Traum war, und er es einfach nie gepackt hat und deswegen Hautarzt geworden ist. Aber immerhin ist er Spezialist für Geschlechtskrankheiten. Doch ich weiß nicht, ob es ihn trösten würde, ihm das noch mal vor Augen zu halten.

Ich mache den ersten möglichen Termin – Mitte Dezember – und verlasse die Praxis.

Sonntag, 6. September 2009

A Book Judged By Its Cover



Ich sitze im Zug von Soest nach Hamm und ärgere mich, dass ich mir nichts zu lesen mitgenommen habe, als ich von meinem Gegenüber hektisch aus meinen Gedanken gerissen werde. Seine Nase blutet sehr stark und er fragt nach einem Taschentuch. Ich krame in meiner Tasche und finde zwischen Ipod, Handy, Haustürschlüssel und dem neuen Ikea-Katalog schließlich meine letzten, bereits angebrochenen Taschentücher.

„Die kannste behalten…“

Er nimmt die Packung, dann seinen Koffer, bedankt sich leise und verschwindet.

Ich sehe, dass auf seinem Platz noch ein Buch liegt, nehme es und gehe im nach. Als ich ihm hinterherrufe, er habe seine Lektüre vergessen, beschleunigt er seinen Schritt. Er dreht sich um und sieht mich mit dem Buch in der Hand. Jetzt fängt er an zu rennen. Der Zug kommt zum stehen, die Türen öffnen sich und er springt nach draußen.

„Viel Glück mein Freund!“, schreit er noch zu mir herein, bis er schließlich die Treppen des Bahnhofs hinunterläuft und verschwindet.

Komischer Typ.

Ohne großartig zu überlegen, stecke ich das Buch in meine Tasche und steige in Hamm aus, um auf den nächsten Zug nach Köln zu warten.

Ich muss erst wieder daran denken, als ich im RE7 sitze. Die hübsche Blondine mit dem Nasenring, die mir gegenüber sitzt, scheint sich nicht für mich zu interessieren, also starre ich gelangweilt aus dem Fenster, bis mir schließlich das Buch wieder einfällt. Ich hole es aus meiner Tasche und höre, wie die Blondine anfängt zu kichern. Ich versuche zu lächeln.

Ja, belesene Typen schinden schnell Eindruck bei jungen Frauen.

Das ist zumindest der erste Gedanke, den ich habe. Erst als ich meine Augen von ihr abwende, um mich wieder dem Buch zu widmen, sehe ich den wahren Grund für ihr Kichern. Die Rückseite des Buchs zeigt auf halber Seite ein Foto der schwedischen Autorin Kerstin Thorvall. Mit Hornbrille und Pottschnitt grinst sie dem vermeintlichen Leser entgegen. Darunter steht eine kurze Zusammenfassung und der Verlag: „Neue Frau“.

Klasse. Soviel zum Thema Eindruck schinden…

Weil ich aber weiter den kultivierten jungen Typen geben möchte, versuche ich mir nichts anmerken zu lassen (was ziemlich schwierig ist, da mir die Sache sehr peinlich ist und ich merke, dass ich ziemlich rot werde), schlage das Buch irgendwo in der Mitte auf und tu so, als würde ich weiterlesen:

„Der Strand auf der kleinen Insel war ein Nacktbadestrand. Sie hatte sich abgewandt. Ich sah, wie Gittan und sie sich auszogen. Plötzlich viel mir ein, dass es lange her war, dass ich sie ohne Kleider gesehen hatte. Ich wollte nicht, dass sie sich je umdrehte. Und doch wollte ich es. Voller Entsetzen und Lust erhob sich mein in den Körper integriertes, aber doch selbstständiges Organ, als…“

Ich bin auf eine seltsame Weise sofort von diesem Buch gepackt, als plötzlich Blut auf die Seite tropft und mich von der Lektüre ablenkt. Meine Nase blutet. Ich suche verzweifelt nach Taschentüchern, bis mir wieder einfällt, wo meine letzte Packung abgeblieben ist.

Das Mädchen von gegenüber hat meine missliche Lage bereits erkannt und bietet mir ihre letzten Taschentücher an. Ich nehme die Packung, dann meine Tasche, bedanke mich leise und siehe zu, dass ich aus diesem Zug komme. Ich höre sie noch hinter mir herrufen, dass ich mein Buch vergessen hätte, als ich aus der Bahn in die Freiheit springe.


P.S.: Sollte jemals jemand den Roman „Die Verschwundene“ von Kerstin Thorvall in der Bahn liegen sehen, lasst die Finger davon. Oder versichert euch wenigstens vorher, dass ihr eine Packung Taschentücher dabei habt. Ich bin ja nicht abergläubisch oder so, aber dieses Buch ist verflucht!